Vor ein paar Tagen war ich auf einem Nena-Konzert. Ich bin schon lange kein Fan mehr, aber bei dem Lied „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ hatte ich das Gefühl, meinem früheren Ich ganz nahe zu sein. Ich stand Arm in Arm mit Dir, dem Mädchen, das ich einmal war. Wir betrachteten fasziniert Nenas Oberarme, an denen die Zeit spurlos vorübergegangen ist, und ich rief Dir zu: „Schau Dir mal meine an! Dann wird Dir klar, wie viele Jahre vergangen sind!“ Du lachtest und sangst: „Denk nicht lange nach wir fahr’n auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht!“
Ich dachte an Deine Zukunft, die meine Vergangenheit ist, und ich hätte Dich gern gefragt: „Ildikó, mein Liebchen, bin ich so, wie Du Dir mich vorgestellt hast? Bist Du zufrieden mit dem, was aus Dir geworden ist? Habe ich Dich gut verwandelt, und bin ich das Ich geworden, das Du werden wolltest? Habe ich das Beste aus dem gemacht, was Du mir anvertraut hast – Dein Leben, Deine Zukunft, Deinen Körper, Deine Träume und Talente? Habe ich Dich enttäuscht, Ildikó, oder habe ich Deine großen Hoffnungen erfüllt?“
Ich war kurz in Versuchung, Dir zu erklären, warum ich manche Wege eingeschlagen habe und andere nicht. Es fiel mir schwer, Dich nicht zu warnen vor den Schmerzen und Gefahren, die kommen werden, und ich hätte Dich so gerne teilhaben lassen an den Erkenntnissen, die ich in all den Jahren gewonnen habe, die Du noch vor Dir hast. Ich weiß so genau, was Du versäumen wirst, dass es mir im Herzen weh tut. Ich weiß so genau, welche Wunder vor Dir liegen, dass ich Deine Hände greifen und vor Freude tanzen möchte. Ich habe jede Deiner Tränen geweint, jedes Lachen gelacht, jeden Kampf gekämpft, jede Angst durchlitten, jedes Glück umarmt. Ich weiß, was kommen wird, und alles, was ich Dir sagen kann ist: Unser Leben ist wunderbar. Nicht, weil es schön ist, sondern weil es bunt, dunkel und hell, reich und erbärmlich, gigantisch und kümmerlich, glücklich und unglücklich ist. Einzigartig.
Ich wollte Dich in den Arm nehmen und so lange halten, bis es peinlich wird. Dir sicher früher als mir. Denn mir ist nichts mehr peinlich. Aber Du bist so jung. Du bist so schön. Du hörst „Nena“ und träumst von der großen Liebe. Ich denke: Ildikó, ich kann Dir nichts ersparen, nichts erklären und nichts raten, denn die Wege, die Du gehen wirst, gibt es noch nicht. Du erschaffst sie, wenn Du sie betrittst, sie legen sich Dir zu Füßen in dem Moment, in dem Du sie beschreitest, sie entstehen durch die vergehende Zeit und durch Dein reifendes Ich. Keine Hürde kann ich Dir aus dem Weg räumen, keine Abkürzung und kein Ziel benennen, keinen Schmerz von Dir fernhalten. Aber ich hoffe, dass Du irgendwann bei mir ankommen, dass du in den Spiegel sehen, Dich in mir erkennen und sagen wirst: „Die Alte da, die gefällt mir!“
Wenn ich Dich anschaue, sehe ich nicht mich. Du bist mir fremd und doch vertraut. Mein faltenfreies, unentfaltetes Ich. Fast vier Jahrzehnte trennen uns, was vor Dir liegt, liegt hinter mir. Ich sehe ein Mädchen, dass meine Tochter sein könnte. Ich sehe die Augenbrauen, fein geschwungen wie meine, die Hände zierlich, das Ego groß und dennoch so zerbrechlich. Du bist wunderschön, aber Du wirst zu wenig gesehen. Du wirst erst viel, viel später verstehen, was es heißt, einen blinden Vater gehabt zu haben. Er wird dann lange tot sein. Und auch das wirst Du erst in meinem Alter verstehen: was es bedeutet haben wird, dass Du so früh in Deinem Leben kein Kind mehr warst.
Wenn ich jetzt bei Dir bleiben könnte, würde ich mir eine Zigarette mir Dir teilen – obschon ich mir wünschte, Du hättest nie angefangen zu rauchen – und Dir sagen, was ich an Dir liebe. Deine Haare sind nicht zu wild, und Dein Busen ist nicht zu klein, wer hat Dir bloß diesen Quatsch erzählt? Du bist so schön, so nachdenklich, so ernst und so lustig. Du bist klug. Lass Dir nicht einreden, Du seist zu oberflächlich, zu egoistisch, zu emotional oder zu dumm für irgendwas. Du würdest unerschütterlich an Dich glauben, wenn Du Dich so gut kennen würdest, wie ich Dich kenne. Ich weiß, dass ich Dir gefehlt habe. Es tut mir so leid, aber es hat mich noch nicht gegeben. Jetzt bin ich hier und für Dich da, wenn Du mich brauchst, mein Liebchen, mein Kind. |