Liebe ...
Hallo, meine Liebe!
Dies ist also mein zweiter Brief an Dich, und ich finde, da darf man fast schon von einer ernstzunehmenden Korrespondenz sprechen. 😄
Und ich freue mich darüber! Wir sind richtige Brieffreundinnen!
Das klingt so altmodisch, im besten Sinne. Nach Prilblumen, Ponyhof und Grüner-Apfel-Shampoo. Nach Frotteeschlafanzügen, Glanzbildern, Poesiealben und nach sechs Wochen Sommerferien, aus denen Briefe und Postkarten an Tanten und an beste Freundinnen geschrieben wurden.💌
Vor vier Wochen habe ich Dir zum ersten Mal geschrieben, und seither ist so viel Unterschiedliches in mir und um mich herum passiert. Und das in einer Fülle und schnellen Taktung, dass ich mit dem Verarbeiten des Erlebten gar nicht hinterherkomme. Auch dafür ist dieser Brief ein wunderbares Instrument: Innehalten, Zurückblicken, Einordnen und den wichtigen Momenten und Gedanken nachträglich die verdiente Bedeutung verleihen, die in der raschen Abfolge des Geschehens oft zu kurz kommt.
Ist es nicht immer wieder erstaunlich, wie viele verschiedene, oft sogar gegensätzliche Gefühle und Stimmungen in uns Platz haben?
Abends um acht Uhr kommt der Schrecken des Krieges zu mir nach Hause. Ich habe es mir schnell abgewöhnt, für die Bilder und Nachrichten aus der Ukraine ständig erreichbar zu sein, das hielte ich nicht aus. Dann sitze ich, oft genug weinend, vor dem Fernseher, wütend, angstvoll, mitfühlend. Und eine Stunde später gebe ich meinem Sohn noch einen Kuss auf die Stirn und bleibe ein paar Atemzüge an seinem Bett sitzen, überwältigt von Dankbarkeit und Glück für diesen friedlichen Moment. Dann lösche ich das Licht in seinem Zimmer und weiß, dass er es liebt, wenn ich nebenan im Bad noch ein paar heimelige Geräusche mache. Dann schläft er ein, mit dem Gefühl, dass ich da bin und dass ihm nichts passieren kann. Ich wünschte, das wäre so.
Heimelige Geräusche. Die habe ich als Kind genauso geliebt. Das Klappern der Töpfe, mit denen meine Mutter in der Küche hantierte, die Radiosendung, die mein Vater im Zimmer nebenan hörte.
Kennst du das? Diese tiefe, manchmal wirklich fast verzweifelte Sehnsucht nach früher?
Ist das noch normal? Ich habe den Eindruck, es wird immer schlimmer, je älter ich werde.
Unsichtbare Fäden scheinen mich in meine Heimat zu ziehen. Ich kehre wieder und wieder zurück, bin wie rastlos auf der Suche.
Wonach? Nie bin ich abgereist mit dem Gefühl: „Jetzt habe ich gefunden, was ich suchte. Jetzt ist es vollendet. Jetzt ist die Sehnsucht gestillt und dieser große, namenlose Kummer vorbei.“ Natürlich nicht. Fast lächerlich spät wurde mir klar: Ich bin nicht auf der Suche nach einem Ort, sondern nach einer Zeit. Nach einer vergangenen Zeit. Sie ist vorbei und meine Suche immer erfolglos. Aufgeben kommt für mich trotzdem nicht infrage.😊
Neulich ging ich durch die Straßen meiner Heimatstadt Aachen. Ich war über ein Jahr lang nicht dort gewesen und in sehr sentimentaler Stimmung. Das ist allerdings nichts Ungewöhnliches. Egal, wie lange ich nicht mehr in meinem alten Zuhause war, ob Wochen oder Tage, ich bin immer außer mir vor Freude, Sehnsucht und tief empfundenem Pathos, wenn ich wieder zurückkomme. Es ist ähnlich wie mit meiner Hundedame Hilde, die sich immer freut wie ein Schnitzel, wenn ich nach Hause komme, auch wenn ich nur bei den Mülltonnen war und keine Minute fort.
So geht es mir mit Aachen. Komme ich hin, bin ich voller Gefühle. Fahre ich weg, bin ich voller Gefühle. Komme ich zurück, bin ich schon wieder voller Gefühle. Die nutzen sich nicht ab, sie bleiben groß und unerlöst, und am Grab meiner Eltern weine ich jedes Mal so bitterlich, als seien sie gerade erst gestorben.
Ich weiß mittlerweile, dass die Sehnsucht, die meine Heimat in mir auslöst, nicht zu stillen ist. Denn es ist die Sehnsucht nach Kindheit und nach dem Kindsein, nach dem Elternhaben, nach der einzigartigen Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, nach einem Leben, in dem andere auf mich aufpassen und abends das Licht in meinem Zimmer löschen. Wenn ich durch meine alte Straße spaziere, vorbei an meinem Elternhaus, dann spüre ich förmlich, wie sich in meinem Inneren das Kind, das ich war, und die Frau, die ich bin, in den Armen liegen und einander sagen, wie sehr sie sich manchmal vermissen.
Ich ging vorbei an einer Mauer, die mir als kleines Mädchen unendlich hoch vorgekommen war. Mein Vater hatte mich stets hochgehoben, ein lieb gewonnenes Ritual, und an seiner Hand war ich vorsichtig und stolz die Mauer entlang marschiert. Sie säumt den Weg, der zum Friedhof führt, wo seit mehr als zwanzig Jahren meine Eltern ruhen.
Die Mutter meiner Freundin Bianca ist vor wenigen Tagen gestorben. Und ich konnte ihre Erschütterung, von der sie selbst überrascht war, allzu gut nachvollziehen. Die Erschütterung darüber, auf einmal niemandes Kind mehr zu sein. Und dafür gibt es keinen Trost und keine Worte. Egal, wie sicher du im Leben stehst, wie erwachsen du geworden bist. Wenn deine Mutter stirbt, bist du einfach nur ein Kind, dass kein Kind mehr ist, weil es seine Mutter verloren hat.
Kürzlich, in einem sehr intensiven Podcast-Gespräch mit der Wissenschaftlerin Eva Schulte-Austum, sagte sie den wunderbaren Satz: „Heute bin ich der Mensch, den ich damals gebraucht hätte.“ Und das hat uns beide so bewegt, dass wir mit den Tränen gerungen haben und ein paar Minuten gar nicht weitersprechen konnten.
Was für ein Mensch hat mir gefehlt, als ich ein Kind war? Wen hätte ich gebraucht? Und bin ich heute dieser Mensch? Ich mag den Begriff „Nachbemutterung“. Beinhaltet er doch, dass ich im besten Fall heute in der Lage bin, einige der alten und schlecht verheilten Wunden selbst zu versorgen. Nicht zu heilen.
Diese Gedanken hatte ich, als ich an der Mauer, die eher ein Mäuerchen ist, entlang ging. Auf dem Friedhof dann versah ich das Grab meiner Eltern mit österlichen Geschmacklosigkeiten. Ich bin berüchtigt für die üppige und diskutable Dekoration der Gräber meiner Liebsten. Auch das Grab der Eltern meiner Freundin Silvi ist vor mir nicht sicher. Ich verließ den Friedhof, wie üblich in Tränen aufgelöst, sammelte mich kurz, um anschließend vor dem Kofferraum meines Autos für Bärbel Schäfer ein Instagram-Video, in dem ich auf ihren Podcast aufmerksam machte und das ich ihr für diesen Tag versprochen hatte aufzunehmen. Danach fuhr ich in die Innenstadt und suchte in einem Karnevalsladen – wunderbar, so was gibt es nur im Rheinland – nach Kostümen für meine Bühnenshow. Am späten Nachmittag machte ich mich auf den Weg nach Hause. Bewegt und erschöpft von diesen unterschiedlichen Eindrücken und Gefühlen. Ich ließ meine Heimat hinter mir, freute mich auf zu Hause und bemerkte gleichzeitig, wieder einmal, die Wehmut, die sich zuverlässig einstellt, wenn mein Aachen im Rückspiegel immer kleiner und die unstillbare Sehnsucht nach Vergangenem immer gleich groß bleibt. Wie die Mauer, die zum Friedhof führt.
Danke, dass du mich auf meiner Reise begleitet hast! Ich weiß, dass ich nicht ins Leere schreibe, dann ich habe wunderbare Antworten bekommen. Von Dir, von Euch. Ich lese sie alle, beantworte einige und freue mich zutiefst über jede einzelne. Geben sie mir doch genau jenes Gefühl, das ich hier vermitteln und das ich selbst so dringend spüren möchte:
Du bist nicht allein. Ich bin nicht allein.
Danke.
Sehr herzlich!
Deine
Ildikó
PS: Die wirklichen „News“, die in diesem „Newsletter“ mal wieder total fehlen😅 findest du auf meiner Homepage unter idlikovonkuerthy.de. |
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Für mich wird diese Mauer immer unerreichbar hoch sein, nur zu erklimmen mit der Hilfe meines Vaters. Lustigerweise scheren sich meine frühen Erinnerungen überhaupt nicht um die Realität. Ein Abgleich mit der Wirklichkeit erreicht offenbar nicht die Hirnareale, in denen die Bilder unserer Kindheit abgespeichert sind. Sie trotzen jedem Versuch, sie mit gesundem Menschenverstand zu korrigieren. Die Mauer wird immer hoch, mein Elternhaus ein Palast, und die Sommer in Aachen werden immer supersonnig bleiben. Stimmt alles nicht, aber das ist meinem inneren Kind völlig egal. 😊 |
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Mein Vater war blind. Er hat mich nie gesehen. Als ich anfing zu sprechen, fing ich an, ihm die Welt zu beschreiben. Erzählen, was ich sehe. Im Grunde habe ich nie damit aufgehört. „Papa, Vorsicht Stufe!“ war einer meiner ersten vollständigen Sätze. Ich war seine Augen. Eine große Verantwortung für ein kleines Kind. Manchmal zu groß. |
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In der Sonne liegen und sich weder um Vergangenes noch um Zukünftiges sorgen. Für kleine Momente entführt mich mein Hund immer wieder ins Jetzt. Beim Spaziergang, beim Kuscheln (ja, sie darf auf´s Sofa 😊 ), wenn sie sich freut, dass ich wieder da bin, was sie übrigens auch jeden Morgen beim Aufwachen tut. Ich finde das Jetzt eigentlich ziemlich überschätzt, denn ich bin alles, was ich bin, auch durch das, was war und das was noch kommt. Ich blicke gern zurück, und ich blicke gern nach vorn. Hilde ist die pure Gegenwart - und manchmal besuche ich sie dort und genieße den Augenblick und nichts sonst. |
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Don´t stop me now! Diese Fotos sind bei der Generalprobe für die Show zum Buch in Hamburg entstanden. Die Begeisterung – vor allem bei mir selbst 😁 - war groß. Denn damit habe ich mir einen Traum erfüllt und mir ein ganz neuartiges, noch nie da gewesenes Lesungs-Konzept ausgedacht. Aus reiner Notwehr! Ich habe nämlich seit der Schulzeit panische Angst vor dem Vorlesen. Also erfand ich die „Show zum Buch“, in der ich mit wechselnden Partner:innen auftrete, Dialoge aus dem Roman lese, tanze, singe, mich verkleide. Eben all das tue, was ich gern tue! |
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Seid dabei! Mitsingen, lachen, weinen, tanzen und singen! Ich würde mich so freuen, Euch zu sehen, meine lieben Brieffreundinnen! Alle Tourtermine findet ihr hier im Überblick!
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