Hallo, meine Liebe!
Hallo, meine Liebe!
Wie geht es Dir, jetzt, wo sich der Sommer allmählich von uns verabschiedet?
Welche Seelen-Souvenirs hast du mitgebracht, welche Gedanken-Andenken werden Dich an die Sonnenmonate dieses Jahres erinnern?
Wenn Du jetzt, an diesen letzten warmen Tagen, eine Postkarte an Dein Ich schreiben würdest, welches Motiv würdest Du wählen, und welcher Satz stünde darauf?
Was wäre Deine Botschaft an Dich selbst, welcher Dein kostbarster Sommergedanke?
Meine Postkarte an mich selbst sähe so aus: |
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Und auf die Rückseite schriebe ich diesen Satz: |
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Ich verabschiede den Sommer stets mit einer Mischung aus Wehmut und Erleichterung. Er ist für mich, ähnlich wie Sonn- und Feiertage, immer wieder eine Herausforderung, eine Jahreszeit, die mich fordert und nicht selten überfordert. Der Sommer hat so hohe Erwartungen an mich, und oft habe ich das Gefühl, seinen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Der Sommer ist so schön, er will mir das Leben leicht machen, unbeschwert, sonnig. Und er will, völlig zu Recht, geliebt werden. Er will ausgekostet werden, er will, dass ich das Beste aus ihm mache, aus jedem einzelnen seiner langen Tage, seiner warmen Abende, seiner lieblichen Morgenstunden, die nach Glück und frisch gemähtem Rasen duften. Der Sommer will, dass ich fröhlich bin und Farbe bekomme.
Es ist so leicht, im Sommer glücklich zu sein. Umso schwerer ist es, im Sommer unglücklich zu sein. Es ist irgendwie nicht vorgesehen. Traurigkeit im November ist völlig akzeptiert, aber bei Sonnenschein und Temperaturen über 20 Grad, ist kollektiver Frohsinn gefordert und Du fühlst Dich undankbar, wenn das Lachen der anderen draußen auf ihren Balkonen und Terrassen zu Dir hochkriecht und Dir das Herz schwer macht, weil Du Dich allein fühlst und weil Dir nicht nach Lachen zumute ist.
Vor ein paar Wochen war ich zu Gast im Morgenmagazin, und der Moderator behauptete naseweis, da ich glücklich verheiratet sei und zwei Kinder hätte, würde ich Selbstzweifel und Not ja kaum kennen dürfen. Und prompt fühlte ich mich schlecht, weil ich mich manchmal schlecht fühle.
Kennst Du die Scham, die einen überkommt, wenn die eigene Laune nicht dem guten Wetter entspricht? Wenn die äußeren Bedingungen mehr als günstig, die innere Verfasstheit dennoch mehr als bescheiden ist?
Entschuldige, dass ich Dich mit diesen schwermütigen Zeilen überfalle. Vielleicht liegt es daran, dass ich in den letzten beiden Wochen der Sommerferien Corona und das Gefühl hatte, es könne keine ungünstigere Zeit geben für Isolation und betrübte Mattigkeit. Dieser Herbstnebel im Kopf, während draußen Sommer ist. Und es hat mir in diesen trüben Tagen so gut getan, Mitleid zu erfahren und Nachrichten von Menschen zu erhalten, denen es ähnlich erging, die mir Mut zusprachen und Verständnis hatten. Und etwas von diesem Wohlgefühl möchte ich heute an Euch zurückgeben: Ich weiß, wie es ist, wenn man das Gefühl hat, die Einzige zu sein, die nicht glücklich ist und sich gar nicht recht traut, das zuzugeben. Ich weiß aber auch: Ich bin nicht die Einzige.
Und das bringt mich zu den Souvenirs des Sommers, die ich Euch mitgebracht habe, und zurück zu meiner Postkarte. Das Foto zeigt mich in einem vollkommenem Glücksmoment, Arm in Arm mit meinen Söhnen am Ostseestrand. Dem ist nichts hinzuzufügen. In diesem Moment war mein Leben tatsächlich märchenhaft schön. Wenig später habe ich die Geschirrspülmaschine ausgeräumt und mich geärgert, dass keiner der beiden von selbst darauf kam, mir dabei zu helfen. Das ist die weise Balance des Lebens. Gut, dass weder das Glück noch das Unglück von Dauer ist.
Nun zur Rückseite der Postkarte und dem Satz:
ICH HABE MEIN BESTES GEGEBEN.
Dafür muss ich ein wenig ausholen, und ich hoffe, Ihr begleitet mich auf diesen Ausflug, der vor genau 40 Jahren begonnen hat. Damals war ich 14 Jahre alt, und mein Vater, Pädagogikprofessor und Individualpsychologischer Berater, nahm mich mit auf einen Kongress in Österreich. ICASSI findet jedes Jahr in einem anderen Land statt und ist eine von Rudolf Dreikurs gegründete, internationale Sommerschule für Individualpsychologie – eine Form der Tiefenpsychologie, die von Alfred Adler begründet wurde. Bei ICASSI kommen LehrerInnen und TeilnehmerInnen aus aller Herren Länder zusammen, um zu lernen und zu lehren. Es geht um Gemeinschaftsgefühl und um Ermutigung, um Selbsterfahrung, Gruppenarbeit und darum, die einzigartige ICASSI-Atmosphäre zu erleben. Gedanken zu tanken, Inspirationen zu sammeln, Wunden zu heilen, Pläne zu schmieden, Freunde zu finden.
Ich habe ICASSI fünfmal besucht, zuletzt 1989. Und in diesem Jahr war ich bereit, mich endlich wieder darauf einzulassen. Mein zwölfjähriger Sohn hat mich nach Holland begleitet.
Eine Woche voller Geistesblitze und Denkanstöße. Ist das nicht irre, wie viel man noch über sich lernen kann, wenn man mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist? Ich werde Euch hier bestimmt immer wieder von den Erkenntnissen, die ich dort gewonnen habe, und den Ideen, die in mir anfangen heranzureifen, berichten. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass die Lebensphase, in der ich mich befinde, die Wechseljahre, echte Jahre des Wechsels und der Entfaltung trotz Falten sind. Ich hoffe, Ihr bleibt an meiner Seite, bei dieser Abenteuerreise in die Weiten unseres Verstandes und die Tiefen unserer Herzen.
Jetzt aber will ich Euch von meinem Lehrer Yoav Shoham aus Israel und seinem Kurs „The Art of Encouragement“, „Die Kunst der Ermutigung“ berichten. Er bat uns – wir waren eine kleine Gruppe von fünf Personen –, eine Karte auszuwählen, die uns an ein bedrückendes Erlebnis erinnert.
Ich wählte diese hier: |
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Dann sollten wir der Reihe nach von dem Vorfall, an den uns die Abbildung auf unserer Karte erinnert, berichten, und die Gruppe sollte sich darin üben, ermutigende Worte für jeden zu finden.
Ich erzählte diese Geschichte: „Eine meiner engsten Freundinnen rief mich am Morgen des 19. Januars vor einem Jahr an. Sie war verzweifelt und zunächst verstand ich kaum, was sie sagte. Schließlich begriff ich das Unfassbare: Ihr Mann war am Abend zuvor die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Er lag im Koma und die Ärzte hatten wenig Hoffnung, dass er wieder aufwachen, geschweige denn wieder gesund werden würde. „Soll ich kommen?“, fragte ich. „Nein. Lass uns den Tag und die Nacht abwarten,“ sagte meine Freundin. Drei Stunden später fuhr ich trotzdem los. 450 Kilometer bangend und voller Sorge und Angst. Ich weiß, dass ich versuchte, meine Nerven mit einem Hörbuch zu beruhigen. Ein Krimi von Dorothy Sayers, den ich schon kannte. Am späten Nachmittag traf ich bei meiner Freundin ein und eine halbe Stunde später kam der Anruf vom Krankenhaus, sie solle sich auf den Weg machen, es sähe nicht gut aus und es könne jeden Moment zu Ende gehen. Die Nachricht, dass ihr Mann gestorben war, erreichte uns um 19 Uhr 21 auf der Landstraße irgendwo zwischen Düren und Aachen. Ich fuhr rechts ran. Wir stiegen aus, standen in der Dunkelheit. Atmen, weinen, atmen. Wir hatten jetzt keine Eile mehr. Als wir im Aachener Klinikum eintrafen, kam noch eine Verwandte meiner Freundin dazu und zu dritt gingen wir in Richtung Intensivstation.
Das Gebäude verschlang mich, und mit jedem Schritt, der mich tiefer in die Gedärme dieses Monsters führte, das nur aus Metallröhren, grünen Fluren und grauen Betonwänden besteht, wuchs meine Panik. Hier starb mein Vater vor bald einem halben Jahrhundert. Hier starb mein Cousin vor zwanzig Jahren, er war gerademal dreißig, an Krebs. Hier machte ich als 17-jährige ein Praktikum und war den Eindrücken von Leid und Sterben nicht gewachsen. Ich weiß noch, dass damals Sommer war und ich es kaum aushielt, aus den streng riechenden Krankenzimmern in die lichtdurchflutete Welt, auf die Wiesen, den Golfplatz, die Straße die nach Hause führte, zu schauen. Ich fühlte mich eingesperrt. Es nahm mir die Luft zum Atmen. Ein Haus des Todes. Und jetzt war ich zurück, so viele Jahre später, aber nicht stärker. Auf halber Strecke im neongrellen Tunnel des Klinikums überwältigte mich die altbekannte Angst. Ich griff nach dem Arm meiner Freundin und sagte: `Ich schaffe es nicht weiter. Es tut mir so leid.` Und dann rannte ich in Richtung Ausgang, gehetzt von meinen eigenen Dämonen. Ich schäme mich bis heute, dass ich meiner Freundin in ihrer schwersten Stunde nicht beistehen konnte.“
Es folgten eine Reihe einfühlsamer Antworten aus der Gruppe. „Du warst für sie da. Du bist hingefahren. Im entscheidenden Moment warst du bei ihr. Du bist zu streng mit dir.“ Eine Teilnehmerin aus Irland sagte: „What you did was absolutely good enough.“
Gut genug. Ich nickte höflich.
Unser Lehrer Yoav sagte: „Ihr habt versucht, zu trösten. Aber fühlt sie sich ermutigt? Nein. Ildikó glaubt, sie habe versagt. Und an diesem Gefühl könnt ihr nichts ändern, in dem Ihr ihr immer wieder sagt, sie hätte nicht versagt.“
Wir schauten ihn gespannt an. Ich natürlich ganz besonders, denn er hatte völlig recht: Ich fühlte mich nicht ermutigt. Aber was sollte an meinem Gefühl, versagt zu haben, etwas ändern können?
Yoav sagte zu mir in seinem reizenden Englisch mit dem hebräischen Akzent: „Wenn du keine Beine hättest, würdest du dir nicht übelnehmen, dass du den weiten Weg bis zur Intensivstation nicht gehen konntest. Mach dir klar: In dem Moment im Krankhaus warst du verkrüppelt. You were crippled. Du warst krank. Deine Beine haben zwar funktioniert, aber nicht deine Seele. Accept reality. Akzeptiere die Realität. What you did wasn´t only good enough. Es war nicht nur gut genug, was du getan hast. You did your best. Du hast dein Bestes gegeben.“
Ich weiß nicht, ob Du verstehen kannst, was für eine Erleichterung das für mich war. Dieser eine so harte, und dieser zweite so simple Satz. You are crippled. You did your best. Die klebrige Mischung aus Scham und Schuldgefühl fiel von mir ab. Seit diesem Abend im Klinikum hatte ich gedacht, ich müsse lernen, mir mein Versagen zu verzeihen.
Aber das stimmt ja gar nicht!
Warum sollte ich mich um Vergebung bitten? Ich muss mir nichts verzeihen, denn ich habe nichts falsch gemacht. Ich bin nicht gescheitert. Ganz im Gegenteil:
Ich habe mein Bestes gegeben!
Wir tun gut daran, die Strenge, mit der wir uns selbst be- und sogar verurteilen, zu überdenken und zu korrigieren. Die Realität zu akzeptieren heißt auch, sich zu versöhnen mit dem Menschen, der wir sind und mit den begrenzten Möglichkeiten, die wir haben. So ist das Leben. Deins und meins auch. Und wenn Du im Tunnel Deiner ganz persönlichen Ängste, Deiner Nöte, Deiner Zweifel gefangen bist, ist das schrecklich und oft kaum zu ertragen. Und dann verdienst du Dein Mitleid und Deine Milde, Dein Verständnis und Ermutigung. Und vielleicht denkst Du in solchen Momenten an die Postkarte aus dem Sommer, die Du Dir selbst geschrieben hast.
Ich habe gerade eine Idee: Hast Du Lust, Deine kostbare, sonnige Ermutigungs-Postkarte auch an mich und in die Runde dieser Brieffreundschaften zu schicken? Das wäre großartig!
Ihr lieben Brieffreundinnen, sendet mir Eure Sommer-Bilder, Eure Sommer-Gedanken! Ich würde dann einige Eurer Sätze und Bilder hier in meinen nächsten Briefen in unsere Gruppe weitergeben.
Meine Adresse ist:
Ildikó von Kürthy
Rowohlt Verlag
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
Lass uns haufenweise Licht sammeln für die dunklen Zeiten! Ich freue mich so sehr darauf und grüße Dich von Herzen!
Deine
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