Hallo, meine Liebe!
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Hallo, meine Liebe!

Heute umschwirren mich meine Gedanken keck und flatterhaft, sie ziehen an mir vorbei zum Greifen nah und machen sich über mich lustig, wenn ich sie dennoch nicht zu fassen bekomme. 
Stelle Dich also bitte auf einen ebenso flatterhaften Brief ein. Ich werde, wie ein Kind mit verbundenen Augen in eine Lostrommel, tief in das Gedankendickicht hinter meiner Stirn hineingreifen und planlos die eine oder andere Ansicht, Einsicht, Idee, Erinnerung herausfischen und hoffen, dass nicht allzu viele Nieten dabei sind.😁

Gestern war ein wunderbarer Sommertag, den ich in einer kleinen, kuscheligen Ferienwohnung auf dem Land verbracht habe, in die ich mich immer mal wieder zum Arbeiten und Schreiben zurückziehe. Zu Hause kann ich mich schlecht abgrenzen. Ständig werde ich gestört. Der Postbote, die Söhne, die pure Anwesenheit des Kühlschranks und der Schmutzwäsche, schönes Wetter, der Anruf einer Freundin, die Mail vom Verlag, der Online-Katalog. All das lenkt mich ab. Selten bleibt die Tür zu meinem Arbeitszimmer länger als 15 Minuten geschlossen. Und wenn mal keiner stört, dann gehe ich raus, um nachzuschauen, warum keiner stört. 😊 

Ich habe es verlernt, meine Konzentration lange und uneingeschränkt auf eine Sache zu richten. Ich schäme mich richtig, das zuzugeben, aber es ist so, dass ich total selten nur einer einzigen Tätigkeit nachgehe. Meistens mache ich mindestens zwei Dinge gleichzeitig. Fernsehen und parallel Schokolade vertilgen und die Lage in den sozialen Medien im Auge behalten. Autofahren und Podcasts oder Hörbücher hören. An der roten Ampel meine Mails checken. Mein spätes Frühstück essen und in einer Zeitschrift blättern (nur wenn ich alleine bin, ehrlich!). Selbst in Gesprächen bemerke ich immer wieder, wie mein Geist ungeduldig vorauseilt, weil er zu wissen glaubt, was mein Gegenüber als Nächstes sagen wird, oder aber wie er abschweift, um sich klammheimlich bereits einer anderen Sache zu widmen.
 
Ich höre mit halbem Ohr, ich sehe mit einem Drittel Auge, ich denke mit einem Viertel Hirn. 
Wann bin ich ganz?

Warum und wie ist sie mir verloren gegangen, die Fähigkeit der Hingabe an eine einzige Sache, die Kraft der Konzentration, die Hochachtung vor dem Moment? Mein Hirn fühlt sich mehr und mehr an wie ein altes, durchlöchertes Kopfkissen in der Waschmaschine. Es wird hin- und hergerüttelt, kommt wenn, dann nur kurz zur Ruhe, ehe sich der nächste Schleudergang einschaltet.
 
Kennt Ihr das Gefühl, nicht mehr Herrin der Lage in Eurem eigenen Kopf zu sein?

Jetzt, während ich diese Sätze schreibe, würde ich am liebsten aufstehen, meinen Hund streicheln, mir einen Tee kochen, aufs Klo gehen, auch wenn ich gar nicht muss, etwas essen, auch wenn ich keinen Hunger habe. Mich durch Ablenkung entwinden aus einer Situation, die ich nicht in den Griff bekomme, die mich überfordert, obschon sie doch nur eines von mir verlangt: in ihr zu verharren und ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.

Weißt du noch, wie ich diesen Gedankengang begonnen habe? Mit einem wunderbaren Sommertag auf dem Land. Wovon ich nämlich eigentlich erzählen wollte, bevor ich abgeschweift und meinen mit mir durchgehenden Gedanken hinterhergeilt bin, war mein Besuch im Freibad. 
Der war so schön! 

Ich war völlig eins mit mir und meiner simplen Sehnsucht nach Wasser, Bahnenschwimmen und dem Geruch von Sonnencreme. Klar, ich mag das Meer sehr, und Seen mag ich fast noch mehr – aber Freibäder liebe ich! Ganz besonders diese großen, etwas altmodischen Badeanstalten auf dem Land mit ihren riesigen Liegewiesen und den großen Becken, die selten überfüllt sind.

Und während ich meine Bahnen schwamm – 50 Meter können sich ganz schön lang hinziehen –, dachte ich darüber nach, was mich eigentlich glücklich macht. Und wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich meine Erfüllung nicht dort finde, wo ich sie gerne finden würde. Ich wäre gern anspruchsvoller und interessierter, wissbegieriger und kenntnisreicher, reiselustiger und mutiger.

Aber mein Glück liegt selten weit weg, nicht am feinsandigen Strand der Malediven, sondern an der Ostsee oder auf dem Rasen im Freibad. Mein Glück sitzt mit am Abendbrottisch, wenn meine Familie zusammenkommt, es gesellt sich still zu mir, wenn ich früh ins Bett gehe und ein Buch aufschlage, auf das ich mich schon den ganzen Tag gefreut habe. Übrigens oft Bücher, die meine Freundinnen zu seicht finden. Mein Glück blinzelt mir zu, wenn ich Deine und Eure Antworten auf diesen Newsletter lese. Antworten, die, egal wie unterschiedlich sie sein mögen, mir doch immer eines vermitteln: Du verstehst mich.

Mein Glück erscheint oft Hand in Hand mit meiner Trauer, wie neulich, als ich in der Kirche St. Laurentius in Aachen-Laurensberg, wo ich viele Taufen und Beerdigungen erlebt habe, durch Zufall eine Chorprobe mitanhörte. Sie sangen „Hallelujah“ von Leonard Cohen, und Du kannst Dir lebhaft vorstellen, wer hinten in der letzten Reihe ein Taschentuch nach dem anderen durchnässte. 

„Weinend amüsiert sich der Ungar“ – das hat mein halbungarischer Vater immer gesagt. Ich finde das Wort „amüsieren“ unpassend, aber dennoch steckt darin die Wahrheit, dass es ein Glück sein kann, sich seinen Gefühlen hinzugeben. 
Jetzt, wo ich das schreibe, fällt mir auf, dass all diese kleinen Glücksmomente, die ich gerade beschrieben habe, solche sind, in denen ich unabgelenkt war, wo die Gedanken bei Fuß gingen und mein Geist Ruhe fand. 
Glück bedeutet für mich, ganz zu sein.

Mein Vater hat noch etwas immer wieder gesagt. Es war sein Credo, und bis heute frage ich mich, ob er recht hatte oder ob er mir das Leben durch das unablässige Wiederholen dieser Sätze unnötig schwer gemacht hat: „Wo die Angst ist, da ist der Weg“ und „Angst ist dazu da, überwunden zu werden". 
Könnte es sein, dass die Angst mir zeigen wollte, wo mein Weg nicht ist? Ist meine Angst ein Schild, auf dem aus gutem Grund steht: „Vorsicht! Absturzgefahr! Betreten verboten!“? 

Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit meiner Angst. Gehe ihr aus dem Weg, gebe ihr nach, versuche sie zu überwinden, zu verstehen, zu akzeptieren, und letztlich will ich nur eins: sie loswerden. Aber warum eigentlich? Mein Vater war ein abenteuerlustiger Draufgänger, seine Erblindung hat ihm Grenzen gesetzt, die für ihn kaum zu ertragen waren. Seine Tochter hat er sich gewünscht als eine Person, die ihre Ängste überwindet und sich keine Grenzen setzen lässt. Es muss hart für ihn gewesen sein, dass ich so anders geraten bin.

Ich frage Dich: Wie viel Selbstüberwindung und Mut gehört zu einem glücklichen Leben? Liegt die Erfüllung jenseits der Warnschilder? Da, wo offene Stromleitungen lauern, wo Steinschläge, bissige Hunde oder brüchiges Eis drohen? 
Wie gehst Du mit deinen Ängsten um? Und wo findest Du Dein Glück?
Bist Du noch bei mir? Oder hast Du zwischendurch die Wäsche aufgehängt, die Katze gefüttert und das Besteck eingeräumt? Du weißt, ich hätte dafür viel Verständnis.😁

Nur auf einen letzten Gedankensprung möchte ich Dich noch mitnehmen. Ich habe in den vergangenen Tagen einige Gespräche über Freundschaft geführt und bin dabei, meine Ansichten zu dem Thema zu korrigieren. „Freundschaft“ war für mich ein großes Wort. Eine nahezu heilige Verbindung, selten und kostbar, köstlich und reif wie ein alter, schwerer Wein. Das alles bedeutet Freundschaft für mich, und so soll es auch bleiben. Aber Freundschaft kann und darf so viel mehr sein. Es gibt Sekunden-Freundschaften, ein Blick des Verständnisses, ein Satz, der verbindet. Immer wieder treffe ich in Interviews Menschen oder für meinen Podcast Frauen, die für diese Minuten oder Stunden zu Freundinnen und Freunden werden. Wahrscheinlich sehen wir uns nie wieder, aber das Gefühl, für diese einzigartigen Momente verbunden gewesen zu sein, bleibt. Auch das ist für mich ab jetzt Freundschaft. Kurz. Und trotzdem für immer.

Ich danke Dir, dass Du mich durch diese Zeilen begleitet hast, meine liebe Brief-Freundin!

Herzlich,
Deine
Ildikó 
 
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