Hamburg, den 22.12.2024
Meine liebe Freundin,
dieser Brief erreicht Dich nun kurz vor Weihnachten.

Es sollte ein fröhlicher, ein pompöser, ein glitzernder Brief werden, voller Dankbarkeit für das vergangene und voller Vorfreude auf das neue Jahr.
Ich wollte beschenkt und mit Energie dieses Jahr verlassen, das für mich voll von Erkenntnissen und sonniger und inniger Erfahrungen war. Es sollte eine Weihnachtspost werden, aus der funkelnde Sternchen fallen.

Aber so einen Brief kann ich Dir jetzt nicht mehr schreiben.

Vor wenigen Tagen wurde ich daran erinnert, dass sich alles, was wir für gegeben halten, von einem Tag auf den andern verändern kann, und dass es keinen Anspruch darauf gibt, verschont zu werden von Lebens-Unwettern und von plötzlich und viel zu früh einbrechender Dunkelheit.


Ich weiß, das ist nicht der Brief, den du Dir gewünscht hast in diesen goldglänzenden Tagen. Aber ich mag nicht so tun, als wären meine Gedanken leicht und schimmernd wie das Lametta am Baum, während sie in Wahrheit bei einem geliebten Menschen aus meinem Freundeskreis sind, der eine schwere Zeit durchmachen muss.
Und, wie zur zynischen Bestätigung der ständigen Möglichkeit eines jähen Endes, einer urplötzlichen Katastrophe, erfahre ich, während ich diese Zeilen schreibe, von dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit Toten und Verletzten. So gesellt sich nun also in diesem Brief zu meinem ganz privaten Kummer die Anteilnahme für das Leid der Opfer und deren Angehöriger.

Ich möchte Dir, und das passt nun doch wieder zu Weihnachten, von Freundlichkeit und Nächstenliebe erzählen. Nächstenliebe. So schön ich dieses etwas altmodische Wort auch finde, ist es mir doch etwas zu groß und unübersichtlich geraten.
Was sollen wir nicht alles lieben!? Omas Pfannkuchen und das Meer, unseren Körper, Obst und unsere Eltern, den Partner, die Kinder und natürlich, und das in aller erster Linie und ohne Kompromisse: uns selbst!
Selbstliebe ist quasi zur unabdingbaren Pflicht geworden. „Liebe Dich selbst!“ lautet das schrille Gebot der Stunde, im Stakkato gepredigt von Life-Coaches, Lebensberaterinnen und Glücksversprechenden.
Ich finde das, ehrlich gesagt, viel zu viel verlangt. Mal mag ich mich, mal überhaupt nicht. Mal hadere ich mit meinen Schwächen, mal nervt mich mein in Teilen fragwürdiger Charakter, manchmal bin ich stolz auf mich, manchmal schäme ich mich für mich, mal schaue ich mir gerne in die Augen, und mal finde ich meine Haare Scheiße. Und ehe ich immer wieder am kollektiven Imperativ der Selbstliebe scheitere, versuche ich es doch lieber mit Selbstakzeptanz, mit Respekt, mit… Freundlichkeit.

Als ich vergangene Woche, von Sorgen gedrückt, durch die Straßen ging, sah ich unsere Postbotin, ihr vertrautes, nettes Gesicht, und ich grüßte sie lächelnd, weil sie mir wie ein kleines Licht vorkam. Aber ihr Blick glitt gleichgültig über mich hinweg, und mein Gruß, der eigentlich eher ein Hilferuf gewesen war, fiel ins Leere. Und da kamen mir die Tränen, weil diese winzige, eigentlich doch so unerhebliche Unaufmerksamkeit mehr war, als ich in diesem Moment noch ertragen konnte.
Einen Tag später schloss ich mein Fahrrad ab und ging, meinen Kopf gesenkt und immer noch zutiefst bekümmert über das Gelände meines Sportclubs hin zur Turnhalle. Eine ältere Dame kam mir entgegen und sagte „Guten Tag!“ Ich war in Gedanken weit weg und murmelte, ohne aufzublicken, ein leises und kraftloses „Hallo". Daraufhin blieb die Dame stehen und fuhr mich laut und gereizt an: „Können Sie nicht zurück grüßen?"
Sie marschierte im Stechschritt davon, ehe ich antworten konnte.
Und dann stand ich Minuten später auf dem Stairmaster, ein im Grunde genommen beschämendes Gerät, auf dem ich mittlerweile wohl Jahre meines Lebens verbracht habe, und machte mir Gedanken über die heilsame Kraft von Freundlichkeit.
Ich hätte das Lächeln der Postbotin so dringend gebraucht, aber vielleicht waren ihre Gedanken ebenfalls bei einem geliebten Menschen in Not. Die forsche Dame - vielleicht war sie etwas schwerhörig, und vielleicht sehnte sie sich nach einem lauten, freundlichen Gruß, vielleicht fühlte sie sich von mir allein gelassen in ihrem Kummer, vielleicht hätte ich ihr kleines Licht sein sollen.
Mag sein, dass ich gerade etwas zu pathetisch werde.
Bitte verzeih mir, es ist Weihnachten.
Und alles, was ich sagen will, ist: Sei freundlich. Sei immer freundlich. Du weißt nie, wem Du mit deinem Lächeln vielleicht gerade auf gewisse Weise das Leben rettest.

Meine Freundin Dagmar legte gestern beim Mittagessen tröstend ihre Hand auf meine und sagte: „Es ist so wichtig, dass wir das Leben genießen.“
Das stimmt, und ich finde es interessant zu bemerken, wie sich meine Vorstellung von Lebensgenuss in den letzten Jahren verändert hat: Als junge Frau habe ich das Chaos geliebt, die Abwechslung, riesige Portionen Eis und Nudeln, den Rausch und das Drama. Immer Drama! Wenn es kein Drama ist, dann ist es keine Liebe! Wenn es nicht laut ist, wenn es nicht anstrengend ist, wenn es nicht wehtut, wenn das Herz nicht rast und die Augen nicht tränen, dann ist es kein Leben!
Das kleine Glück? Mit dem sollten sich diese mickrigen Leute zufriedengeben, die sich nicht trauten, an das große Glück zu glauben. Bloß nichts verpassen! Tanz bis in den frühen Morgen, mach die Musik lauter, schlafen kannst du, wenn du alt und fast schon tot bist!

Und jetzt, allmählich, bin ich endlich alt genug, um zu schlafen, und das ohne fast schon tot zu sein :-) Die Party mag auf ihren Höhepunkt zusteuern, aber ich geh´ trotzdem schon mal nach Hause.
Ich werde endlich doch noch so, wie ich nie werden wollte. Ich liebe Putztipps und lange Spaziergänge, ich mag Pausen und das nachdenkliche Innehalten zwischen Reiz und Reaktion. Dieser kostbare Raum, den ich früher nie betreten habe - es gelingt mir immer öfter, ihn zu nutzen, in ihm zu verweilen, um mir die Chance zu geben, nicht impulsiv, sondern bedacht zu reagieren.

Weihnachten also, und ein neues Jahr.
Ich wünsche Dir, dass Deine Postbotin Dich immer dann grüßt, wenn Du es ganz dringend brauchst :-), dass Du laut und deutlich, so dass auch die Alten Dich hören können, „Guten Tag!" sagst. Ich wünsche Dir, dass Du Dein Leben genießt, eventuell auf ganz andere Weise, als Du Dir das früher vorgestellt hast.

Ich freue mich über unsere Brieffreundschaft. Über diese freundliche und stärkende Verbindung. Es tut mir wohl, meine Gedanken schreibend zu ordnen und zu teilen.

Ich wünsche Dir und Deinen Liebsten frohe Weihnachten
und ein gutes neues Jahr!
Sehr herzlich,
Deine
Ildikó
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