Liebe ...
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Liebe ...❓❓❓
 
Normalerweise ist es „nur“ der erste Satz, den ich gerne wochenlang vor mir herschiebe. Diesmal ist es sogar die Anrede, die mir Kopfzerbrechen bereitet! Ich möchte Dir einen persönlichen Brief schreiben, kann ihn aber nicht persönlich adressieren.

Was schreibe ich also?

„Liebe Leserin“ – das ist zwar nicht einfallsreich, aber neutral und passt immer. „Liebe Freundin“ ist wahrscheinlich zu übergriffig. „Hallo“ klingt unpersönlich, und „Hey“ so lässig, wie ich nicht bin. „Guten Tag“ ist recht förmlich, „Guten Abend“ wäre schön, aber nicht am späten Vormittag. Wie wäre es mit einer Mischform: „Hallo, meine Liebe?“ Warum nicht?
Ich versuche es mal, und wenn allzu viele Beschwerdebriefe zurückkommen, kann ich beim nächsten Mal immer noch „Sehr geehrte Abonnentin“ schreiben.😄

Also:
Hallo, meine Liebe❣️
Ich freue mich, dass ich Dir schreiben darf! Das meine ich ernst, denn ich weiß, dass Zeit und Aufmerksamkeit das Kostbarste sind, was wir zu verschenken haben. Während Du diese Zeilen hoffentlich entspannt liest, stecke ich gerade in einer ganz besonders unentspannten Lebensphase.

Wenn ein neuer Roman erscheint, beginnt für mich immer eine Zeit, in der ich viel fremdbestimmter lebe und arbeite als sonst. Schreiben tue ich allein – aber das Buch in die Welt hinaus zu schicken, ist ein Kraftakt, an dem viele beteiligt sind. Das kenne ich schon von meinen anderen Büchern. Aber mit diesem ist alles irgendwie anders.
Weil ich irgendwie anders bin.

Ich befinde mich mitten in einem aufsehenerregenden und anstrengenden Verwandlungsprozess. Ich weiß ja, dass diese berühmten Wechseljahre, diese Frechheit der Natur, einem das Frauenleben schwer machen können. Es ist die Zeit, in der der Satz „Könnten Sie bitte mal ein Fenster aufmachen?“ zum nervigen Refrain wird. Aber es ist auch die Zeit, in der Frauen Bilanz ziehen und sich fragen: Wer bin ich? Und wer will ich sein? Wo will ich hin, wenn ich mir von niemandem mehr sagen lasse, wo es langgeht?
Ich sehe unter meinen Freundinnen lauter Frauen, die sich entfalten, trotz Falten, die sich entscheiden, neue Wege zu gehen, die aus dem Schatten treten, die nicht mehr fragen „Was wollt ihr heute essen?“, sondern „Worauf habe ich heute Hunger?“.

Kennst Du dieses neue Selbstbewusstsein? Und eckst Du auch manchmal damit an? Mein Mann wundert sich, warum ich nicht mehr bereitwillig über wirklich jeden seiner Witze lache. Nur noch über die guten. 😊
Meine Freundinnen und Freunde nehmen mich als ernsthafter wahr, als strenger, als verantwortungsbewusster. Manche meinen, mir sei die Leichtigkeit verlorengegangen. Das macht mir Angst. Bin ich auf dem besten Weg, eine schmallippige, alte Meckerziege zu werden? 🐐
Oder bin ich einfach eine Frau, die genauer hinschaut und deswegen auch zunehmend bemerkt, was ihr nicht oder nicht mehr gefällt?

Meine Kinder werden größer – das bricht mir das Herz, aber ich kann es ja leider nicht verhindern –, und ich bemerke, wie sich neue Räume auftun. Die zu füllen steht jetzt an. Und während ich neulich mal wieder verzagt über diese Mammutaufgabe jammerte, wies mich meine Freundin Karen völlig zurecht darauf hin, was es für ein Luxus ist, dass ich diese Räume überhaupt neu füllen darf und kann! Viele Frauen müssen sich mit den Wechseljahren in die Unsichtbarkeit verabschieden, weil sie schwach und abhängig sind in einem System, das die Schwäche und Abhängigkeit von Frauen immer noch begünstigt.

Ich muss mir meine privilegierte Situation immer wieder bewusst machen. Ich bin finanziell unabhängig, ich liebe meinen Beruf und meinen Mann meistens auch – und beide lassen Entwicklungen nicht nur zu, sondern unterstützen sie. Sven, mein Mann seit über 20 Jahren, ist klug und weiß genau, dass wir nur in Frieden miteinander leben können, wenn ich mich entfalten – und bei Bedarf auch wieder zusammenfalten kann. 💤💤💤
Denn ich liebe unser Sofa, und ich brauche den regelmäßigen und häufigen Rückzug in unser Zuhause und in seine Arme genauso dringend wie das Gefühl, aufbrechen zu können. Zum Glück geht ihm das ganz genauso. Du kannst Dir also denken, dass wir ziemlich viel Zeit zusammen auf dem Sofa verbringen. Ich bin ein sehr gemütlich strukturierter Zu-Hause-Mensch. 🏡 Umso wichtiger ist es, dass ich mich immer wieder zwinge, mir Herausforderungen zu suchen.

Zeit meines Lebens habe ich mich als ängstlich und feige beschrieben. Erst in den letzten Wochen fiel mir auf, dass das überhaupt nicht stimmt. Ja, ich habe viele und große Ängste. Aber mir wurde klar, dass nur die Menschen, die viel Angst haben, auch viel Mut brauchen. Und ich brauche ständig Mut. Ich brauche ihn für Dinge, die andere mit einem Schulterzucken erledigen. Meine Komfortzone endet auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Heute bin ich stolz zu sagen: Ich bin eine mutige Frau. Denn ich überwinde meine Angst. Mal mehr, mal weniger, und mal überhaupt nicht. Und das ist dann auch in Ordnung. Das war für mich eine wichtige Erkenntnis:
Mut ist ein Prozess. Keine Eigenschaft. 💪🏼
 
Ich möchte Dir noch etwas über mein neues Buch erzählen, was mir wichtig ist: Ich habe es meiner Mutter gewidmet und lange darüber nachgedacht, ob ich das wirklich tun soll. Denn diese Widmung ist zugleich ein Nachruf, ein Bedauern und eine Bitte um Vergebung. Denn die Entwicklung, die meine Protagonistin Ruth im Roman macht, hat meine Mutter nicht gemacht, und das tut mir leid.

Meine Mutter war nicht unabhängig, sie durfte sich nicht stark machen, sie stand im Schatten, ihr Leben lang. In dem meines Vaters und auch in meinem. Sie hat sich nur wenige Träume und Bedürfnisse erfüllen können, hat sich stets um die Träume und Bedürfnisse der anderen gekümmert. Ein Vorbild war sie für mich nicht. Das sage ich mit Bedauern, aber ohne Vorwurf. Denn sie war keine schwache Frau – sie war eine Verschüttete, eine Unentfaltete, eine verblasste Frau, die nie das sein konnte, was sie hätte sein können. Auch um diese Frau, die sie nie hat werden können, trauere ich seit bald 20 Jahren.

Entschuldige bitte, nun hat dieser Brief auch die Schwere bekommen, die in der letzten Zeit vermehrt mein Leben durchzieht. Aber unsere Brieffreundschaft soll ja wahrhaftig sein, und so sieht es nun mal in diesen Tagen in mir aus. Dazu kommt natürlich die Freude auf mein Buch und die bange Spannung, wie es bei meinen Leserinnen ankommen wird.
Kannst Du Dir vorstellen, wie das ist? Da lebt man über ein Jahr lang mit sorgfältig erfundenen, heißgeliebten Charakteren, sie wachsen einem ans Herz, man beschäftigt sich Tag ein Tag aus mit ihnen, erzählt ihr Schicksal, wird Teil ihres Lebens und dann lässt man sie auf die Welt los und kann nichts mehr tun, als zu hoffen, dass sie auf Wohlwollen, vielleicht sogar Begeisterung treffen.
 
Ich sehe, dass der mir erlaubte Schreibplatz langsam knapp wird. Dabei ist das Internet doch eigentlich unendlich groß. 😊  Aber mir wurde gesagt, dass ich eine bestimmte Länge nicht überschreiten soll. Na gut. Ich könnte noch ewig so weiterschreiben. 

Ich wollte Dir doch noch von dem Werbespot erzählen, den wir für meinen Roman gedreht haben. Was für ein Abenteuer! Ich wollte von meiner Tour durch den Buchhandel erzählen. Was für eine Freude! Ich wollte von Hilde erzählen, meiner kleinen Hundedame, die ich so gerne um mich habe. Ich wollte von meinem Instagram-Account berichten, den ich pflege und hege, der mir Spaß macht, der mich aber mich auch viel Mühe gekostet und mich zu oft ablenkt, weil ich mich so leicht in den sozialen Medien verliere. Wie gehst Du damit um?
Ach, mir scheint, ein monatlicher Brief ist mir nicht genug. Vielleicht melde ich mich morgen noch mal. 😅
Aber für heute belasse ich es dabei.

Das war er also, mein erster Newsletter. Allerdings völlig ohne News. Dafür aber direkt von der Seele runtergeschrieben, von Herz zu Herz 💖, für Dich, meine liebe, unbekannte und doch vertraute Freundin!
 
Deine
Ildikó
 
PS: Ich möchte diesen wertvollen Platz nicht nutzen, um auf kommende Termine, Shows und Podcasts hinzuweisen. Schau da doch bitte einfach auf meiner Homepage nach unter www.ildikovonkuerthy.de

Aber ein paar Fotos aus den letzten Wochen möchte ich Dir hier noch zeigen. Und dazu anmerken: Über allen ist ein Filter drüber, mein Hals ist faltig und mein Leben kein Märchen! Die abgebrochenen Fußnägel, die ungemachten Betten, die verworfenen Textanfänge und die verheulten Augen, die zeige ich Dir hier nicht. Aber sei gewiss, es gibt sie!

Noch mal sehr herzlich:
Ildikó
 
 
 
 
 
 
 
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