Hallo, meine Liebe ...
Hallo, meine Liebe❣️
Jetzt ist es also wieder so weit. Auch nach all den Jahren ist es stets aufs Neue ein Moment der traurigen Erleichterung.
Feierlich und still, bekümmert und begeistert.
Und weil ich Dich an dieser eigenwilligen Stimmung teilhaben lassen möchte, soll dieser Brief nicht mit ersten, sondern mit letzten Sätzen beginnen:
Der Wind kommt vom Meer.
Meine Freundin, ich höre Dich lachen. Laut, wie es Deine Art ist.
Und damit ist es vorbei. Nach acht Monaten, 75.521 Wörtern, 484.124 Zeichen und 9000 Zeilen ist wieder ein Buch geschrieben, wieder eine Geschichte erzählt, wieder ein Ende erreicht.
Dieser Roman war eine ganz besondere Reise für mich. Ich hatte Dir ja schon in meinem letzten Brief geschrieben, dass ich beschlossen habe, mein Jubiläum als Schriftstellerin zu feiern, indem ich mich zurückbegebe in die Zeit, in der vor fünfundzwanzig Jahren alles mit einem Happy End begann.
Sind wir nicht schon längst in dem Alter, in dem es uns mehr interessiert, was nach dem Happy End geschieht? Sind nicht das eigentliche Abenteuer des Lebens die Bewältigung des Alltags und die Verteidigung der Liebe gegen Gewohnheit, Routine - und gegen die Träume, die uns die Realität madig machen?
Neulich hörte ich in dem Podcast der Feministin Glennon Doyle den Satz:
«Don’t let your dreams ruin your life.»
Der Satz beschäftigt mich sehr. Und im Grunde genommen dreht sich mein ganzer Jubiläumsroman genau um dieses Thema. Welche Träume und welche Albträume begleiten uns und erschweren uns den Umgang mit dem Leben? Welche Lasten, seien es Sehnsüchte, Schuldgefühle, Ängste oder Schamgefühle, die sich wie ein Schatten an unsere Versen geheftet haben, begleiten uns? Und wie können wir uns von ihnen befreien? Denn auch unerfüllte Sehnsüchte können zu Albträumen werden und uns die Freude an unserer Gegenwart, an unserer Vergangenheit und an unserer Zukunft verderben.
Meine Protagonistin Cora Hübsch, Du wirst sie vielleicht noch aus meinem ersten Roman «Mondscheintarif» kennen, gerät in der Mitte ihres Lebens an einen Knotenpunkt, an dem die Schicksalsfäden zusammenlaufen, sich tatsächlich verknoten, verwirren, einige reißen - um dann zu etwas ganz Neuem zu werden.
Und schon beim Schreiben, bereits im ersten Kapitel, bemerkte ich begeistert, wie quasi von selbst auch die Fäden meiner vergangenen Bücher in diesem Buch zusammenlaufen. «Mondscheintarif» trifft auf «Morgen kann kommen», und Erdal, mein alter Freund, ist sowieso wieder dabei. Cora trifft auf die Schwestern Ruth und Gloria, und am großen Küchentisch in der Villa Ohnsorg entfaltet sich die Handlung des Romans:
«Eine halbe Ewigkeit.»
Es ist ein neues Buch mit einer ganz eigenen Geschichte und gleichzeitig eine Weitererzählung. Ich habe mich selbst während des Schreibens total über das Wiedersehen mit den lieb gewonnenen Figuren gefreut. Es fügte sich alles wunderbar.
Eine halbe Ewigkeit. Ich liebe diesen Titel sehr. Er sagt alles aus, was ich sagen möchte. All die Weisheit und Sehnsucht klingt in ihm, all das Schicksal und Hadern und das Glück, mit dem ich dieses Buch geschrieben und mit dem ich mein Leben bis hierher gelebt habe. Immerhin doch auch schon eine halbe Ewigkeit lang.
Vor einer halben Stunde habe ich die letzten Worte in den Computer getippt.
Meine Freundin, ich höre dich lachen. Laut, wie es deine Art ist.
Dabei sind mir ein paar Tränen übers Gesicht gelaufen. Das ist nichts Neues. Die letzten Sätze sind bei mir in der Regel von Tränen begleitet. Ich war immer schon leicht zu erheitern und neige zu ausgiebiger Sentimentalität. Und besser wird das nicht mit zunehmendem Alter. Ganz im Gegenteil.😭
In den nächsten Tagen werde ich mich mit dem Buch-Manuskript zurückziehen und mich an die Detailarbeit machen. Wobei ich, das will ich gerne zugeben, nicht besonders detailverliebt bin. Was sind schon Kommata, wenn sich alles um die große Liebe dreht? Was bedeuten Perfekt und Plusquamperfekt angesichts einer dramatischen Vergangenheitsbewältigung? Wenn es um Interpunktion geht, bin ich großzügig und kreativ. Geht es jedoch um den Zustand der Zimmer meiner pubertierenden Söhne, werde ich zur humorlosen Ordnungshüterin.
An dieser Stelle will ich Dir kurz beichten, wie froh ich bin, dass die Sommerferien vorbei sind. So schön, ereignis- und regenreich sie auch waren – erholsam kann man sie wirklich nicht nennen. Ich erhole mich am besten, wenn nichts Besonderes passiert. Ich bin ein großer Fan von Stabilität und Routine, Tagesschau, Tatort und einem regelmäßigen Schlaf- und Wachrhythmus - damit fühle ich mich sicher und ausgeglichen. Ich mag es, wenn meine Kinder um acht in der Schule sind und ich um neun am Schreibtisch sitze, nachdem ich im besten Fall schon ein paar ungelenke, gymnastische Übungen gemacht und ein großes Glas Wasser mit Flohsamenschalen getrunken habe. Im Alltag gelingt es mir, einigermaßen (!) konsequent zu sein. Aber kaum kann ich ausschlafen, kaum bin ich woanders, ist das für mich Grund genug, die Gymnastik und die Flohsamenschalen wegzulassen und dafür wieder Zucker in Form von Kuchen, Pralinen und Gumminaschwerk zu mir zu nehmen. Ich nehme im Urlaub immer zu, denn er ist für mich eine Ausnahmezeit, in der ich mühsam antrainierte Gewohnheiten beherzt von einer Minute auf die andere über Bord schmeiße.
Kennst Du das auch?
Lass mich Dir noch kurz von meinem Urlaub in Dublin erzählen. Dort war ich neun Tage mit meinem dreizehnjährigen Sohn auf einem psychologischen Sommerseminar, «ICASSI», das ich vor vierzig Jahren zum ersten Mal zusammen mit meinem Vater besucht habe. Er war Pädagoge und psychologischer Berater und hatte mich zu ICASSI mitgenommen.
Experten der Individualpsychologie aus verschiedenen Ländern unterrichten dort, geben Seminare, halten Vorträge – und es kommt, jedes Mal in einem anderen Land, eine bunte und inspirierende Menge wunderbarer Menschen zusammen. Wieder einmal habe ich so viele Anregungen und Erkenntnisse gesammelt. Abenteuer erlebt bei den Klippenwanderungen durch meine Seelenlandschaft, tiefe Schluchten, magische Orte, dunkle Höhlen und verborgenen Sehenswürdigkeiten entdeckt.
Zurückgekommen bin ich mit vielen Souvenirs. Einer Sammlung an wunderbaren Sätzen, Gedanken, Einsichten und Ansichten. Die allerwichtigste stammt von Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie:
«Trust only movement. Vertraue nur der Bewegung. Das Leben geschieht auf der Ebene von Ereignissen, nicht von Worten.»
Das sind harte Worte. Denn Worte sind meine Welt. Ich liebe gelungene Formulierungen und die Pracht vollkommener Sätze.
Trust only movement.
Das ist so ein perfekter Satz für meine Erkenntnis-Sammlung. Konserviert und präpariert wie ein Schmetterling in einem gläsernen Schaukasten. Eine genadelte Weisheit, versehen mit einem Fundortetikett. Schön, tot, aufgespießt. Er wird niemals fliegen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich Schriftstellerin bin und dass das Ergebnis meiner Arbeit das Wort ist und nicht die Tat. Ich bewege mich in der Fiktion. Vielleicht bewege ich mich deswegen manchmal so schwerfällig in der Realität. Wozu das Wort in die Tat umsetzen, wenn das Wort die Tat ist?
Kennst Du perfekte Sätze? Und gelingt es Dir, sie mit Leben zu füllen? Ich würde mich freuen, wenn du mir Deinen Satz, der dich nachhaltig beeindruckt und vielleicht sogar verändert hat, zuschickst an Ildiko@rowohlt.de.
Und ich verspreche Dir:
Ich werde ihn nicht aufspießen.
Ich lasse ihn leben!
Sei herzlich gegrüßt!
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