Hallo, meine Liebe!
Hallo, meine Liebe!
„Ich kann nicht mehr.“ Der Satz wurde zu meinem Gedanken-Refrain der letzten Wochen, zum stummen Hilferuf. Immer wieder. „Ich kann nicht mehr.“ Aber niemand kam, um mir zu helfen. Warum auch? Der Satz stimmte ja nicht. Die Kraft hat schließlich doch gereicht. So gerade. Und das, was ich dachte, nicht zu schaffen, habe ich schließlich doch geschafft.
Ist das ein Grund, stolz zu sein? Mir auf die Schulter zu klopfen und mich zu beglückwünschen, dass ich mich selbst herausgefordert und schließlich besiegt habe?
Zehn Städte in zwei Wochen, zehn Auftritte mit verschiedenen Bühnenpartnerinnen an meiner Seite, teilweise ausverkaufte Häuser, wunderbare Theater-Momente mit den Künstlerinnen an meiner Seite und dem Publikum im Saal. Dieses beseelende Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Gemeinsam lachen, gemeinsam singen. „I did it my way!“ Gänsehaut. Applaus. Einmal sogar Standing Ovations in meiner Heimatstadt Aachen. Für mich! Unfassbar schön. Mit Tränen in den Augen habe ich mich verneigt vor so viel guter Energie und Warmherzigkeit. Wie ein Rausch aus Anerkennung und Nähe. Und Minuten später sitze ich im Auto, Spannung und Glück fallen von mir ab, und ich denke, ich sei der schwächste Mensch der Welt und habe panische Angst vor dem nächsten Tunnel. „Ich kann nicht mehr.“ Es ist, als würde ich von innen erwürgt.
Kennst Du das?
Ich fühlte mich völlig überfordert und schämte mich gleichzeitig für meine Undankbarkeit meinem großartigen Leben gegenüber, in dem ich das meiste, was ich tue, freiwillig, gern und mit Leidenschaft tue. Aber zu viel des Guten ist eben auch zu viel.
Geht es Dir auch manchmal so, dass Du froh bist, wenn es in einem Geschäft keine riesengroße Auswahl gibt? Wie schön wäre es, wenn es noch Öffnungszeiten gäbe und Ladenschluss, auch für das Internet und Social Media. Wenn Sonntage noch Ruhetage wären, und wenn ich mit dieser Ruhe noch etwas anzufangen wüsste!
Ich sehne mich danach, mich zurückzulehnen. Und springe auf, sobald ich die Gelegenheit zur Muße hätte. Die Wäsche, Instagram, Latein-Vokabeln, Onlineshopping, Kochen, Aufräumen. Mann, Kürthy, bleib doch einfach mal sitzen!
Neulich fragte eine gute Freundin abends in die Runde von zehn Frauen: „Wann habt Ihr euch zuletzt tagsüber zwei Stunden in ein Buch vertieft und alles um euch herum vergessen?“ Keine antwortet. Überraschtes und beschämtes Schweigen.
Haben wir keine Zeit, oder nehmen wir sie uns nicht? Haben wir das seelige Untätigsein verlernt? Woher nehmen wir Kraft, wo tanken wir auf, wenn wir uns nicht selbst ab und zu ermahnen, ja zwingen, eine Raststätte anzufahren und eine Pause zu machen auf unserer langen Reise?
Gerade in diesem Moment schickt mir mein Handy eine Nachricht:
„Vorschlag zum Teilen. Reise. Frankfurt & Aachen & Oberhausen & Düsseldorf & weitere. 17. Oktober bis 1. November. 75 Objekte. Mit Freund:innen teilen?“
Ich schaue mir die Fotos an, und es tut mir leid um diese schönen Augenblicke, die ich selbst der Kostbarkeit entrissen habe, dadurch, dass sie sich nahtlos aneinanderreihen mussten. Dicht gedrängt stehen sie da, ohne die Möglichkeit, jedem einzelnen von ihnen gerecht zu werden. Es sollte auch für die schönen Momente unseres Lebens eine Abstandsregelung geben.
Ich sehe meinen Freund Jörg Thadeusz, ich sehe Noah, den Jungen, den ich seit seiner Geburt kenne und der nun fast zwei Meter groß ist, ich sehe den Zettel an der Schlafzimmertür in Ahlen, „Vorsicht! Ildikó inside 🙂“, mit dem meine Freundin Antje ihre Tochter davon abhalten wollte, mich versehentlich zu wecken. |
|
|
|
|
Ich sehe Gerburg Jahnke und denke an die Offenheit, mit der wir uns in Oberhausen begegnet sind, ich sehe den blutroten Baum am Aasee in Münster, ich sehe meinen eigenen Schatten beim Umziehen hinter der Bühne in Düsseldorf, ich sehe Saskia Fischer, meine Felsin in der Brandung in Bremen, ich sehe meinen Sohn Gábor, der aus England zu Besuch war, zu kurz, ich sehe das Grab meiner Eltern in Aachen, die Bühnenlichter in Berlin, Bärbel mit Schnurrbart in Frankfurt und meine Hilde in ihrem Hundebett in Hamburg. |
|
|
|
|
Endlich wieder zu Hause, erschöpft und mit einem Haufen von Erinnerungen, die mir durch die Hände rinnen wir feiner Sand. Zuviel des Guten.
Und während ich schreibe, wird mir klar, dass dieser Brief ein Abschiedsbrief sein muss. Nicht für immer. Aber für die Zeit, die ich brauche, um wieder zu lernen, was Ruhe bedeutet.
Um mich zu sammeln und mich mit voller Kraft meinem neuen Roman zuwenden zu können. Ich merke, wie die Figuren in mir um Raum kämpfen, wie sie zum Leben erweckt werden, wie ihre Geschichten ersonnen werden wollen. Sie brauchen meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Ich bin ziemlich sicher, dass Du mich verstehst. Und ich hoffe, ich werde Dir auch ein bisschen fehlen. Denn ich werde Dich vermissen. Unseren Austausch und die Möglichkeit, in den Zeilen an Dich meine Gedanken zu sortieren und mir, so wie jetzt, klar zu werden über mich selbst und das, was zu tun und zu lassen ist.
Ich muss das Lassen lernen.
Wartest Du auf mich, bis ich soweit bin? Danke.
Deine |
|
|
|
|
PS: Jetzt habe ich zwei schlaflose Nächte hinter mir, in denen ich mich gefragt habe, ob mein Abschied auf Zeit wirklich richtig ist und was Ihr darüber denkt und ob Ihr es mir übel nehmt. Diese typisch weibliche Mischung aus Sich selbst zu wichtig nehmen bei gleichzeitigem Mangel an Selbstbewusstsein. Und ich möchte Euch, meine lieben Brieffreundinnen, um etwas bitten: Könnt Ihr mir vielleicht ab und zu schreiben? Wie es Euch so geht und was Euch bewegt, kleine, tröstliche Lebenszeichen, damit ich weiß, dass Ihr noch da seid? Das wäre wunderbar.
Tja, so kann es gehen: Da abonniert man einen Newsletter und soll dann selber einen verschicken.😊
Ich freue mich auf Post von Dir an ildiko@rowohlt.de! |
|
|
|
|
|
|
|
|
Impressum |
Rowohlt Verlag
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
E-Mail: info@rowohlt.de |
|
|
|
|